Musik im Hirn – Wie Kreative Musiktherapie die Gehirnentwicklung von frühgeborenen Kindern fördern kann
In unserer randomisiert-kontrollierten Studie am Universitätsspital Zürich konnten wir in Zusammenarbeit mit dem Kinderspital Zürich aufzeigen, dass Kreative Musiktherapie die funktionelle Gehirnaktivität und -konnektivität bei sehr frühgeborenen Kindern verbessern kann.
Sehr frühgeborene Kinder sind Frühgeborene, die vor der 32. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, also mindestens 6 Wochen, wenn nicht sogar 12 Wochen zu früh geboren werden. Somit fehlen den Kindern mehrere Wochen der so wichtigen intrauterinen, multimodalen Sinneserfahrung der Schwangerschaft. In dieser Phase startet die Synaptogenese, Neuronen werden selektiv eliminiert, Synapsen reorganisiert und die Myelinisierung beginnt. Ausgerechnet in dieser Zeitspanne entscheiden Erfahrungen, die in neuronale Aktivität übersetzt werden, welche Verbindungen aufgebaut, ausdifferenziert und erhalten bleiben und welche Verbindungen bereits für immer eliminiert werden. Wir befinden uns also in einer hochsensiblen, vulnerablen Phase der Gehirnentwicklung und Gehirnverschaltungen (Lagercrantz, 2016).
Aus den Musik- und Neurowissenschaften wissen wir, dass Musik verschiedenste Regionen des Gehirns gleichzeitig aktiviert, wie z.B. den Thalamus und den auditorischen und den präfrontalen Kortex (Lin et al., 2011). Musik fördert synaptische Plastizität, neuronales Lernen und Reorganisation (Fujioka, Ross, Kakigi, Pantev, & Trainor, 2006; Rickard, Toukhsati, & Field, 2005). Und nicht nur positive auditive Erfahrungen sondern auch emotional-soziale Erfahrungen fördern die Gehirnentwicklung (Champagne & Curley, 2009). Da die Kreative Musiktherapie diese beiden Aspekte vereint, war meine Hypothese, dass sie die neurologische und Entwicklung Frühgeborener fördern kann (Haslbeck & Bassler, 2018).
Kreative Musiktherapie – ein familien-zentrierter Ansatz
Kreative Musiktherapie ist ein familien-zentrierter Ansatz, den ich 2001 im Rahmen meiner Diplomarbeit (Tirpitz, 2001) theoretisch entwickelt habe und der auf den Grundprinzipien der Nordoff-Robbins Musiktherapie beruht, daher der Name «Creative Music Therapy» oder «Kreative Musiktherapie». Im Rahmen meiner langjährigen praktischen Erfahrung auf mehreren Neonatologien (Uniklinik Essen; Kinderkrankenhaus Bielefeld/ Bethel; Unispital Bern; UniSpital Zürich) und im Rahmen meiner Doktorarbeit (Haslbeck, 2013) konnte ich den Ansatz immer weiter verfeinern. Das Hauptinstrument ist die Stimme, eher ein Summen als ein Singen, meist improvisiert auf dem Atemrhythmus der Kinder. Jegliche Bewegungen, wie z.B. Mimik und Gestik werden in die Improvisation aufgenommen, um diese zu synchronisieren oder aber – wenn die Kinder beispielsweise unruhig sind – ihnen mit sedativen musikalischen Parametern entgegenzuwirken (Haslbeck, 2014).
Die Eltern werden aktiv in den therapeutischen Prozess eingebunden und zum eigenen Summen/Singen motiviert. Wenn es z.B. ein Wunschlied der Familie gibt, wird dieses kultursensitiv in den therapeutischen Prozess eingeflochten. Aber auch Situationslieder oder Songwriting werden als therapeutische Methoden eingesetzt, um den Gefühlen der Eltern Raum zu geben und sie in dieser krisenhaften und traumatischen Zeit zu unterstützen (Haslbeck, 2016; Haslbeck & Hugoson, 2017). Wenn ich die Musiktherapie mit den Eltern zusammen beim Känguruhen anbiete, begleite ich das Singen fast immer mit dem NICU-Monochord, das ich an den Ellbogen oder Arm der Eltern lege, um eine vibro-akustische basale Stimulation, die an die intrauterinen tief-frequenten Klänge erinnert, für Eltern und Kind anzubieten. Zudem hilft es zu entspannen, bildet eine wunderbare Brücke zwischen TherapeutIn, Eltern und Kind und erleichtert den Eltern durch den sanften Klangteppich das Mitsummen/Mitsingen. So können nicht nur die Kinder unterstützt werden, sondern auch die Eltern gestärkt und die Eltern-Kind-Bindung gefördert werden, wie die nachfolgende Grafik veranschaulichen soll (Weitere Informationen zur Kreativen Musiktherapie unter Haslbeck & Bassler, 2020).
In unsere Studie konnten wir 82 klinisch stabile, sehr frühgeborene Kinder einschliessen und in die Musik- oder Kontrollgruppe einteilen. Die Musikgruppe hat 3x pro Woche Kreative Musiktherapie bis zur Entlassung erhalten (ca. 2x pro Woche mit den Eltern beim Känguruhen – wenn die Kinder bei den Eltern auf der Brust kuscheln – und 1x pro Woche im Inkubator oder Wärmebettchen). Die Kontrollgruppe hat die Standardversorung erhalten. Im Alter von 40 Schwangerschaftswochen haben wir nach Beendigung der Therapien eine funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) im Schlaf der Kinder durchgeführt.
fMRT Ergebnisse
Mit den funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT/ englisch: fMRI) Untersuchungen konnten wir aufzeigen, dass sich bei Frühgeborenen unter Musiktherapie bestimmte Gehirnfunktionen am erwarteten Geburtstermin besser ausbilden. Dies konnten wir mit der «lagged fMRI» Analyse nachweisen. «Lag» bezeichnet den Zustand, wenn die Synchronisation zwischen verschiedenen Hirnregionen verzögert ist. Diese Verzögerung haben wir mit der «lagged fMRI» Analyse getestet und einen Unterschied in der Synchronisation zwischen Thalamus und kortikalen Regionen gefunden, die in der Musikgruppe signifikant weniger verzögert war. Sprich, die thalamo-kortikale Konnektivität wurde in der Musikgruppe signifikant erhöht, wie man in der untenstehenden Abbildung in rot und orange unter A sehen kann, insbesondere im:
- Präfrontalen Kortex
- Orbitofrontale Regionen
- Supplementär-motorische Rinde
- Gyrus temporalis superior
- Gyrus temporalis inferior
In Abbildung B erkennt man zudem weitere Areale, die eine verbesserte funktionelle Konnektivität aufzeigen, jedoch keinen konservativen Signifikanzwert erreichen konnten. In der Box-plot Darstellung C wird der signifikante Unterschied zwischen den beiden Gruppen nochmal deutlicher und in der Scatter Abbildung D kann man den Dosis-abhängigen Effekt der Musiktherapie erkennen. Je mehr Musiktherapie die Kinder also erhalten haben, desto stärker ist der Effekt geworden.
Es ist also die Entwicklung in Regionen gefördert worden, die für die weitere motorische Entwicklung, schulische Leistungen, Konzentration aber auch das emotional-soziale Wohlbefinden der Kinder wichtig sind. Dies sind Areale, die allgemein bei Kindern und Erwachsenen mit einer verbesserten funktionelle Konnektivität durch Musik assoziiert werden – z.B. im Gyrus Temporalis mit seiner essentiellen Rolle für das Sprachverständnis (Koelsch, 2009; Lordier et al., 2019) und im präfrontalen Kortex mit seiner essentiellen Rolle für exekutive Funktionen (Reybrouck, Vuust, & Brattico, 2018). Schlussendlich konnten wir in unserer Studie aufzeigen, dass die Kinder, die in dieser sensitiven Phase ihrer Gehirnentwicklung über einige wenige Wochen Musiktherapie erhalten haben, ähnliche entwicklungsfördernde Effekte auf die Gehirnkonnektivität zeigten, wie sonst in Studien nach jahrelangem Instrumentalspiel (Herholz & Zatorre, 2012).
Es bleibt die Frage, ob unsere ersten Ergebnisse mit weiteren neurologischen und psychologischen Untersuchungen mit 5 und 7 Jahren – unseren secondary outcomes der Studie – korrelieren werden und mit grösseren Fallzahlen bestätigt werden können; aus diesem Grund planen wir nun eine Multi-Center Studie.
Friederike Haslbeck
Quelle
Haslbeck, F. B., Jakab, A., Held, U., Bassler, D., Bucher, H. U., & Hagmann, C. (2020). Creative music therapy to promote brain function and brain structure in preterm infants: A randomized controlled pilot study. NeuroImage Clinical, 25(January), 102171. doi.org/10.1016/j.nicl.2020.102171
Referenzen:
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Fujioka, T., Ross, B., Kakigi, R., Pantev, C., & Trainor, L. J. (2006). One year of musical training affects development of auditory cortical-evoked fields in young children. Brain, 129(10), 2593–2608. doi.org/10.1093/brain/awl247
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Lordier, L., Loukas, S., Grouiller, F., Vollenweider, A., Vasung, L., Meskaldij, D. E., … Hüppi, P. S. (2019). Music processing in preterm and full-term newborns: A psychophysiological interaction (PPI) approach in neonatal fMRI. NeuroImage, 185, 857–864. doi.org/10.1016/j.neuroimage.2018.03.078
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Rickard, N. S., Toukhsati, S. R., & Field, S. E. (2005). The effect of music on cognitive performance: insight from neurobiological and animal studies. Behav Cogn Neurosci Rev, 4(4), 235–261. doi.org/4/4/235 [pii] 10.1177/1534582305285869
Tirpitz, F. (2001). Ansätze der Musiktherapie in der Betreuung von Frühgeborenen – Literaturübersicht und Beobachtungen aus der Praxis. [Music therapy with premature infants - literature review and observations of clinical practice]. Faculty of Medicine, Master, 253. Retrieved from www.musictherapyworld.de/modules/archive/stuff/papers/Frederik.pdf
Dr.rer.medic. Friederike Haslbeck, PhD, geb. 1973, ist Mutter zweier Teenager, leidenschaftliche Musikerin (Diplom für Violine und Klavier), Musikwissenschaftlerin und Musiktherapeutin. Sie ist Expertin im Feld der Musiktherapie für frühgeborene Kinder und ihre Eltern und hat an mehreren Spitälern Musiktherapie in der Neonatologie implementiert. Derzeit ist sie als Musiktherapeutin und Senior Wissenschaftlerin am UniversitätsSpital Zürich und der Universität Zürich tätig. Sie ist zudem Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste, Departement Musik und engagiert sich ehrenamtlich als Gründungspräsidentin im Verein amiamusica (www.amiamusica.ch).
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