Tagungsbericht zum Symposium 28. Januar 2017, Zürich ZHdK
Dissonanzen.
Musiktherapie im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik
Schräg, kratzig und harmonisch erklangen die von einem Studierenden gespielten Alphorntöne bei der Eröffnung des 5. Symposiums des Fachbereichs Musiktherapie im Zentrum Weiterbildung an der Zürcher Hochschule der Künste. Vor dem Hintergrund einer zunehmend komplexen weltpolitischen Situation und einer gesellschaftlichen Entwicklung, in welcher demokratische Grundwerte durch erhöhte Gewaltbereitschaft erschüttert werden, stand der Begriff Dissonanz mit der Frage „In wie weit ist Musiktherapie im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik relevant?“ im Fokus.
In drei Referaten und acht Workshops wurde diese Thematik auf vielfältige Weise betrachtet und veranschaulicht.
Prof. em. Dr. med. Wielant Machleidt (Hannover) beleuchtete in seinem Referat „Fremdheit, Identität und Beziehung im interkulturellen Raum“ den Begriff der Dissonanz mit der Darstellung des Entwicklungsprozesses, den Immigranten bei der Annäherung an das Fremde zu bewältigen haben. Die Ablösung von der Herkunftskultur, einhergehend mit Hoffnung, Projektionen, Verlust und Trauer sowie die Akkulturation und Integration in die Aufnahmegesellschaft stellte der Referent als eine Entwicklungsaufgabe dar, die zur ersten normativen Adoleszenz als eine zweite „kulturelle Adoleszenz“ verstanden werden kann. In der erneuten Individuation und Entwicklung von Autonomie, im Kampf gegen den Sinnverlust, kann der Therapeut im Wiederherstellungsprozess der Identität einen Repräsentanten der „neuen“ Gesellschaft verkörpern, so dass kulturelle Differenz in der Beziehung modellhaft erfahrbar gemacht werden kann. Zugleich können im Transkulturellen Raum neue Sinn- und Bedeutungshorizonte für eine neue Identität ausgehandelt und in ein neues integratives Verhältnis gesetzt werden. Die Musik mit der Möglichkeit des Ausdrucks von Atmosphärischem und Ungesagtem kann zudem über die Grenzen der Sprache hinaus in der vulnerablen Entwicklungsleistung eines Immigranten ein weiteres unterstützendes Kommunikationsinstrument darstellen.
Wunderbar konsonant und dissonant klangen die Saxophonimprovisationen der Musikerin Co Streiff nach jedem Referat.
Bettina Kandé-Staehelin (ZHdK Zürich) fragte zu Beginn ihres Referats „Dissonanzen, Widersprüche, Ambivalenzen – entwicklungsförderliche Ressourcen in vielfältigen Systemen“, ob Musiktherapeutinnen und -therapeuten gesellschaftspolitisch Einfluss nehmen, wenn sie Menschen dazu ermutigen, sich und andere in ihrer komplexen, manchmal widersprüchlichen mehrdeutigen Persönlichkeit wahrzunehmen – wenn sie Patienten unterstützen, ihren ungeliebten fremden inneren Anteilen möglichst wohlwollend zu begegnen – wenn sie in einer achtsamen musikalischen Improvisation einen gelassenen Umgang mit Unvorhersehbarem, mit Ungewissheiten, mit dem Nicht-Können, mit Zweifeln und Ambivalenzen fördern – wenn wertfreies Hinhören und Lauschen von Musik und Sprache geübt wird.
Am Beispiel der medialen Berichterstattung über den Ex-Präsidenten Barack Obama (the first black president of the United States) illustrierte die Referentin eine in der Politik, am Stammtisch sowie unter Musiktherapiepatientinnen oftmals vorherrschende reduktionistische Identitätssicht und erläuterte eine polyphone oder vielfältige Identitätssicht, welche den Menschen in seiner inneren Vielfalt wahrnimmt und welche Widersprüche, Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten, Dissonanzen, Fehler sowie Nicht-Wissen als Ressource für Entwicklungsprozesse betrachtet. Das Referat endete mit dem deutlichen Statement, dass auf der Basis eines vielfältigen Menschenbildes die musiktherapeutische Tätigkeit durchaus von gesellschaftspolitischer Relevanz ist.
Prof. Dr. Rosemarie Tüpker (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) veranschaulichte in ihrem Referat „Musiktherapie und Dissonanz“ den Dissonanzbegriff von der Musik, der Psychologie und vom alltäglichen Sprachgebrauch her.
Konsonanz und Dissonanz in der Musik können absolut sowie relativ verstanden und gehört werden. In einem kurzen musikhistorischen Exkurs, welcher die absolute Auffassung des Konsonanz- und Dissonanzbegriffs in der Antike bei Pythagoras, die Musikvorstellung der Romantik und Moderne sowie die Erwähnung von Tonsystemen anderer Musikkulturen umspannte, illustrierte die Referentin, dass es relativ ist, was Menschen als konsonant oder dissonant empfinden und zudem in Abhängigkeit kulturell vermittelter Erfahrungen steht.
Durch Leon Festinger (1909-1989) etablierte sich in den 1970-er Jahren der musikalische Begriff Dissonanz als Kognitive Dissonanz. Festingers Hypothese, dass der Mensch immer nach Konsonanz strebt und versucht, Dissonanzen zu vermeiden oder zu reduzieren, bildete die Grundlage zur Theorie der Kognitiven Dissonanz, welche seither auch zu den Theorien der Sozialpsychologie sowie zum Standard der Werbepsychologie gehört.
Mit Ausdrücken aus der Alltagssprache wie schief, schräg, grässlich oder harmonisch, schön, passend beschreiben Menschen oftmals improvisierte Musik in der Therapie. Sie drücken damit ihr Erleben von Leid und Wohlbefinden aus. Die Fähigkeit, Dissonanzen im Leben und in der Musik auch aushalten zu können, ermöglicht Entwicklungsschritte und erlaubt, krankmachende Muster loszulassen, die eigene Verantwortung am Leid zu sehen oder Schattenanteile zu erkennen und zu akzeptieren.
Das Symposium endete mit der Buchvernissage des 4. Bandes der Zürcher Schriften zur Musiktherapie „Burnout und Musiktherapie“ von Felicitas Sigrist sowie mit vielen Liedern aus der ganzen Welt zum Hinhören und Mitsingen – ein Projekt aus Thun mit Menschen unterschiedlichster Herkunft unter der Leitung der Musiktherapeutin Eva Klaus.
Als Teilnehmerin kann ich nach diesem Tag mit Gewissheit sagen, dass Musiktherapie für unsere Gesellschaft relevant ist. Sie lässt sich beispielsweise unter Einbezug von theoretischen Grundkenntnissen der Psychotraumatologie stabilisierend und ressourcenaktivierend für Menschen mit Fluchterfahrung anwenden; sie lässt sich als emotionsregulierendes und gemeinschaftsbildendes Medium in der Gewaltprävention und der sozialen Integration in Schulen und Fördereinrichtungen einsetzen – und sie ermöglicht im Horchen, Lauschen und Wahrnehmen von Dissonanzen in der Musik und Sprache ein differenzierteres Verständnis und Aushalten von Fremdem in einem selbst wie im fremden Gegenüber.
Jacqueline Stohler
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